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Bestimmte rassespezifi sche Unterschiede ergaben sich ursprünglich
zunächst aufgrund unterschiedlicher Lebensbedingungen der Pferde.
Während „Nordpferde“ kleine, zähe und robuste Typen mit einem
dichten Fell darstellten, weideten in wärmeren, südlicheren Gefi lden
große, schlanke und feinhaarige Pferde.
Mit Einfl uss des Menschen und dessen Nutzung des Pferdes für seine
– mittlerweile sportlichen und wirtschaftlichen – Aktivitäten haben sich
die Ansprüche an die Leistung und das äußere Aussehen des Pferdes verändert.
Zunächst wählte man die am besten geeignetsten
Pferde für eine bestimmte Aufgabe, um deren
Eignung schließlich durch gezielte züchterische
Maßnahmen zu optimieren.
Hierzu wird auch heute noch in erster Linie das
äußere Erscheinungsbild herangezogen, wobei
man sich in Fachkreisen einig ist, dass gerade
das Interieur sehr viel der etwaigen Exterieurmängel
wett machen kann. Nicht nur das: Das
Interieur eines Pferdes scheint der ausschlaggebende
Faktor für die Leistungsfähigkeit zu sein,
denn es mutet an, dass ein stures, unwilliges
Pferd, selbst mit dem besten Exterieur, selten
das Siegertreppchen erklimmen wird.
Sinn der Exterieurbeurteilung
Ist das Exterieur also gar nicht so wichtig für die
Zuchtauswahl? Stellt man die Gebäudebeurteilung
nur deshalb heraus, weil die Einschätzung
des Interieurs für nur wenige Menschen, die mit
dem jeweiligen Pferd innig verbunden sind und
das Tier somit intensiv kennen, im Detail möglich
ist?
Die Einschätzung des Gebäudes macht dennoch
durchaus Sinn, um ein Pferd lange gesund zu
erhalten. Die biomechanischen Abläufe und
Zusammenhänge haben in jedem Fall mit der
Leistungsfähigkeit des Pferdekörpers zu tun.
Über Hebelarme und Kraftvektoren fi nden entsprechende
Kraftübertragungen statt und rein
physikalische Gesetze lassen sich nicht einfach
übergehen.
So muss ein Pferd – egal für welche Disziplin
es gezüchtet wird –im Gleichgewicht sein. Ein
harmonischer Körperbau mit zueinander passenden
Gelenkwinkeln sind hierfür Voraussetzung.
Die eigene Balance hilft dem Pferd, die
Schubkräfte besser zu übertragen und nicht
zuletzt dabei auch noch den Reiter auszubalancieren.
Der geschulte Blick des Betrachters
legt dabei vor seinem geistigen Auge Linien und
geometrische Formen auf den Pferdekörper, um
das Exterieur zu beurteilen. So gilt im Allgemeinen,
dass der Schwerpunkt des Pferdes mit dem
Balancepunkt in Übereinstimmung gebracht
werden muss, damit das Pferd unter dem Sattel
gleichmäßig belastet ist.
Balance- und Schwerpunkt
Der tiefste Punkt des Rückens stellt den Balancepunkt
dar. Der Sattel muss sich mit seinem
Tiefpunkt mit dem des Pferderückens decken.
Der Reiter sitzt immer im Tiefpunkt des Sattels
und würde bei einer Unstimmigkeit keine Möglichkeit
haben, mit dem Pferd ins Gleichgewicht
zu kommen. Ganz abgesehen davon, dass der
Sattel aufgrund der fehlenden Balance Druckstellen
verursachen könnte. Der Schwerpunkt
des Pferdes hingegen wird ermittelt, indem man
von den Kreuzungslinien von Schulter und Becken
ein Lot fällt. Das Pferd ist ausbalanciert,
wenn der Balancepunkt mit dem Schwerpunkt
nahezu überein stimmt. Je weiter diese beiden
Punkte voneinander abweichen, desto schwieriger
ist das Pferd in dieser Hinsicht zu reiten,
also es in Balance und somit in Versammlung
zu bringen. Es handelt sich deshalb um ein entscheidendes
Kriterium für die Rittigkeit eines
Pferdes.
Aus diesem Grund müssen die Schulter- und
Beckenwinkelungen harmonisch aufeinander
abgestimmt sein. Besonders steile Schultern
werden in Bezug auf ein abgefl achtes Becken
stets problematisch sein.
Aber auch die Winkelung der Extremitätengelenkeführen
die Anforderung an ein ausbalanciertes
Pferd fort. Die Winkelung des Schultergelenks
zwischen Schulterblatt und Oberarm
hat sich mit 90° bis 100° als ideal erwiesen. Das
Ellbogengelenk ist mit 130° bis 140° beschrieben,
das Karpalgelenk mit 180°, das Fesselgelenk
mit 135° bis 140°, wobei sich daraus eine
Parallelität des Schulterblatts zum Fesselbein
ergibt. Für die Hinterhand ergeben sich ähnliche
Werte. Das Hüftgelenk wünscht man sich wiederum
mit 90° bis 100°, ebenso das Kniegelenk.
Das Sprunggelenk wird mit 130° bis 140° angegeben,
das Fesselgelenk wiederum mit 135° bis
140°. Die Hufwinkel sollten in der Vorhand mit
45° etwas fl acher sein als an der Hinterhand
(50°).
Das Exterieur hat selbstverständlich auch großen
Einfl uss auf die Bewegungen des Pferdes.
Während man Dressurpferde mit kadenzierten,
die Schwebephase erweiternden Gängen sehen
möchte, strebt man beim Westernpferd hingegen
fl ache, raumgreifende Gänge mit verkürzter
Schwebephase an. Diese Anforderungen sind
zum größten Teil vom Exterieur abhängig. „Gänge
kann man in ihrer Art nicht verändern, aber
man kann sie durch Training verbessern“, so die
Aussage eines renommierten Richters. Das Exterieur
schafft die Basis für die Form der Gänge,
das Training erledigt den Feinschliff. Konkret
spielen hier die Winkelungen der Gelenke und
Länge der Extremitätenknochen jeweils in Relation
zueinander eine Rolle.
Einflüsse auf die Gangqualität
Auch der Hals beeinfl usst die Gänge und Haltung
unter dem Sattel nicht unerheblich. Die
Länge des Halses ist ein Kriterium, wie sich das
Pferd ausbalancieren und der Rücken schwingen
kann. Optisch gesehen sollte der Hals etwa
ein Drittel der gesamten Pferdelänge darstellen.
Um einen harmonischen Eindruck zu gewinnen,
muss sich ein Längenmaß im Körper wiederholen
beziehungsweise sich in multiplizierter Form
wiederfi nden. So sollte sich die Halslänge vom
Genick bis zum Axthieb mit der Länge des Vorderbeins
vom Ellenbogen bis zum Bodendecken.
Die Kopfl änge wünscht man sich so lang wie die
Schulter, dieselbe Länge sollte man vom Ellenbogen
bis zum Fesselkopf, vom Sprunggelenkshöcker
bis zum Boden, vom Sprunggelenkshöcker
bis zum Knie und vom Knie bis zur Kruppe
messen. Die Rückenlänge vom Hinterrand des
Schulterblatts bis zum Hüfthöcker sollte ebenfalls
das gleiche Maß aufzeigen wie der Kopf.
Der Hals dient dem Pferd als Balancierstange
und unterstützt bei einer optimalen Länge die
Rückentätigkeit. Der Halsansatz ist wiederum
sehr entscheidend für die Form und Ausprägung
der Gänge. Tief angesetzte Hälse, wie sie beim
Quarter Horse gerne gesehen werden, unterstützen
fl ache, „Vorwärts-abwärts“-Gänge,
bringen das Pferd tendenziell aber verstärkt auf
die Vorhand Ein hoch angesetzter Hals forciert die absolute
Aufrichtung, was häufi g in einen eher geraden
Rücken mündet und die Entwicklung der Tragkraft
stört, die Schubkraft jedoch unterstützt.
Die Rückenform ist außerdem mitentscheidend
für die Rittigkeit eines Pferdes. Ein Pferderücken
muss in der Lage sein zu schwingen, um
als Kraftvektor zu dienen. Zu lange, zu kurze,
durchgedrückte, gerade und Senkrücken sind
deshalb unerwünscht. So haben noch viele andere
Faktoren wie Ganaschenfreiheit, Maulspalte,
Kopfform, Schulterbreite, Brustkorb, Lage des
Brustbeins, Kruppenform oder Schweifansatz
für die Gebäudebeurteilung was zu sagen. Das
Exterieur ist deshalb ein wichtiger Kernpunkt
bei der Auswahl und somit Zucht eines Pferdes.
Ist die Leistungsfähigkeit
das Nonplusultra?
Doch die Rittigkeit ist nicht allein entscheidend.
Die züchterische Auswahl von Anpaarungen
sollte auch nach dem Gesichtspunkt der Gesunderhaltung
erfolgen. Selbst hier hat das Exterieur
einen großen Anteil.
Pferde mit Stellungsfehlern belasten die Gliedmaße
nicht gleichmäßig und tendierten zu
verfrühtem Gelenkverschleiß. Zehenenge oder
zehenweite Stellungen übertragen zu viel Belastung
auf die laterale beziehungsweise mediale
Gelenksfl äche des Fesselgelenks. Die Folgen
sind Leistungseinbußen, Überlastung von Sehnen
und Bändern sowie die Gefahr einer früh
auftretenden Gelenksarthrose.
Interessanterweise aber fi ndet man immer wieder
Pferde mit deutlichen Fehlstellungen, die
dennoch zu Höchstleistungen fähig sind und
ohne nennenswerte Beschwerden alt werden.
Diese Pferde als absolute Ausnahmen abzutun,
wäre nicht korrekt, angesichts der doch deutlichen
Häufung. Erfahrungsgemäß können Pferde
viele negative Einfl üsse auf den Körper sehr gut
kompensieren. Dies mag ein Grund für deren
Leistungsfähigkeit trotz körperlicher Mängel
sein. Was aber zu einem hohen Prozentsatz
zur Kompensationsfähigkeit beiträgt, ist das
Interieur des Pferdes. Das heutige Reitpferd ist
zum großen Teil ein williges, leistungsbereites
und durchaus unterwürfi ges Tier – die idealen
Voraussetzungen, um es zu Höchstleistungen
heranzuziehen. Obwohl manchmal die immense
Leistungsbereitschaft gerade der Auslöser für
die Zerstörung des Pferdekörpers durch Überlastung
ist, kann sie über die psychische Komponente
und bei richtig dosiertem Training auch
einen positiven Effekt erzielen.
Im Endergebnis haben sowohl Interieur als
auch Exterieur einen wichtigen Anteil für die
Gesunderhaltung und Leistungsfähigkeit eines
Reitpferdes, so dass beides stets in die Überlegungen
von züchterischen Anpaarungen mit
einbezogen werden müssen. Die Kompensationsfähigkeit
kann kein Freibrief sein, Exterieurmängel
außer Acht zu lassen. Bei der Mehrzahl
der Fälle münden Fehlstellungen und unharmonische
Körperproportionen stets in frühzeitige
Verschleißerscheinungen und letztendlich zu
einer kürzeren Lebensdauer.
Somit zählt in der Summe nicht nur die Leistung
des Pferdes auf dem Turnier, die es meist in jungen
Jahren vollbringt und keiner vorhersagen
kann, wie lange der Körper die Belastungen
noch auszuhalten in der Lage ist, sondern insbesondere
auch das Gebäude, das die Basis für
die Gesunderhaltung des Pferdes liefert.
Quelle:
Renate Ettl für westernreiter (EWU)
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